Johannes Sassenbach war Gewerkschafter, Verleger, Publizist und Politiker. Er stand als einer der ersten für das Zusammenwirken von gewerkschaftlicher
Arbeit, Wissenschaft, Kultur und politischem Engagement. Am 12. Oktober 2016 jährt sich der Geburtstag von Johannes Sassenbach zum 150. Mal. Mit einer szenischen Lesung im Rahmen einer
Festveranstaltug ehrte die JSG ihren Namensgeber.
Impressionen von der Festveranstaltung 150 Jahre Sassenbach
Copyright: Fotos von Wolfgang Siesing
Begrüßung durch Detlev Brunner
Hartmut Simon:
Sassenbach - Leben und Wirken
Szenische Lesung mit
Erich Wittenberg,
Jacqueline Roussety
und Simon Bjoergwin Veredon
Elvira Werthmann, Lothar Lindner, Heinz Deutschland, Karlheinz Kuba
Sassenbach als Buchstütze - im Hintergrund Carl Legien als Buchstütze und Lutz Fußangel
Im Folgenden finden Sie den Text der szenischen Lesung, der in Schlaglichtern die verschiedenen Abschnitte im Leben vom Johannes Sassenbach aufgreift.
L1: „Sassenbach ist einer der eigenartigsten Typen des aufstrebenden Arbeiters, der aus der großen Entwicklungszeit des deutschen Proletariats im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist.“
L2: „Gewerkschafts-Zeitung“, Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 31. Januar 1931
L1: „... ein kluger, taktvoller Organisator ... Nichts ist ihm, dem man oft ein wenig spöttisch Pedanterie nachsagt, so verhaßt, als großspuriger Dilettantismus.“
L2: „Graphische Presse“, Organ des Verbandes der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe, 23. Oktober 1931
L1: „... der erste sozialdemokratische Stadtrat Preußens ...“
L2: Franz Osterroth, Biographisches Lexikon des Sozialismus, 1960
L1: „... er gilt als Sprachgenie ...“
L2: Dieter Buslau, 1973
L1: „Die ruhige, klare Art Sassenbachs bot beste Gewähr für ein kameradschaftliches Zusammenwirken, seine Kenntnis in allen Fragen der Organisationspraxis brachte manche wertvolle Anregung ...“
L2: Siegfried Nestriepke, 1930
L1: „Er war ein großer Menschenkenner ...“ „eine der markantesten Persönlichkeiten der deutschen und internationalen Gewerkschaftsbewegung“
L2: Otto Scheugenpflug, mit Sassenbach seit den 1920er Jahren bekannt, 1959
L1: „Sein Name ist ... in der Erinnerung der Nachfahren untergegangen.“
L2: Theodor Heuss, Bundespräsident, im März 1960
L3: 12. Oktober 1866 – der Geburtstag. Mein Geburtsort ist Breun im bergischen Land.
L2: Johannes Sassenbach, aus seinen Erinnerungen von 1936
L3: „Mein Vater betrieb eine Landsattlerei verbunden mit Schankwirtschaft und etwas Landbau ...
Es war kein zu leichtes, aber ausreichendes Brot. Für unsere bescheidene Gegend ohne große Güter und ohne Industrie gehörte mein Vater zu den Wohlhabenden und auf jeden Fall zu den angesehenen.“
L2: Sassenbach wird früh Waise, seine Mutter starb, als er neun Jahre war, als er 12 ist, stirbt auch der Vater. Dennoch schreibt er:
L3: „Meine Jugendzeit war eine glückliche. Keine Sorgen und viel Freiheit; war die Schule vorbei, so konnten stundenlang Touren in unsere unendlichen Wälder gemacht werden. An Erfahrungen blieb man jahrelang hinter der Stadtjugend zurück, aber man bekam gesunde Nerven und einen gesunden Körper. Ich habe es niemals bereut, dass ich auf dem flachen Lande, fernab von jedem Großstadtbetriebe aufgewachsen bin.“
L2: Das Bergische Land – für viele seiner Bewohner ist bereits eine Reise ins 50 Kilometer entfernte Köln eine Weltreise. Dieser Landstrich wird Sassenbach bald zu eng. Er erlernt wie sein Vater das Sattlerhandwerk, aber er weigert sich
L3: sich „in dieser zurückgebliebenen Gegend lebendig begraben zu lassen. Es wäre geistiger Selbstmord gewesen, mich in meiner Geburtsgegend niederzulassen und in der bescheidenen, wenn auch auskömmlichen Weise meines Vaters zu leben, [...]“
L2: 1886 geht Sassenbach auf Wanderschaft. Sie führt ihn in durch Deutschland, in die Schweiz, nach Südfrankreich.
L3: „Diese Reise durch Südfrankreich war von sehr großem Reiz, vor allem, da wir von der Landstraße, die einen großen Bogen macht, abwichen und durch ausgetrocknete Flussbette und über Bergpässe unseren Weg machten.“
L2: Die weiteren Stationen – Italien, Mailand, Venedig, Triest, von Wien nach Prag und von dort wieder nach Deutschland.
L3: „Damit war meine Handwerksburschenzeit zu Ende, ... Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, so habe ich, trotz aller Entbehrungen, sie nicht bedauert. Dieses Durchstreifen der Länder, dieser Kampf ums Dasein von heute auf morgen, das Arbeiten und der Aufenthalt in den verschiedensten Orten, haben für später eine Menge Eindrücke und Erfahrungen zurückgelassen.“
L2: 1889 fährt Sassenbach mit der Eisenbahn von Sachsen nach Köln, hier kam er mit der Arbeiterbewegung in Berührung. Seine Karriere als Gewerkschafter verläuft rasant. Auf der Gründungsversammlung der Kölner Filiale des Allgemeinen Sattlerverbandes im November 1889 hält er seine erste Rede:
L3: „Mein Referat möchte ich jetzt gerne einmal hören, nebenbei auch manch anderen Unsinn, den ich in den späteren Jahren geredet habe. Jedenfalls erinnere ich mich deutlich, dass ich kurz vor Beginn der Versammlung noch einmal auf den Abtritt ging, um meine Stichworte, die ich gut zu Papier gebracht hatte, durchzusehen. Jedenfalls habe ich das Referat, mein erstes Referat, ohne Stocken zu Ende gebracht.“
L2: Sassenbach wird in den Vorstand gewählt, 1891, mittlerweile in Berlin, wird er Vorsitzender der Gewerkschaft.
L3: „Ich war also noch nicht 25 Jahre, als ich Verbandsvorsitzender wurde. Das war damals noch möglich, da es an Kräften fehlte und die Arbeit ehrenamtlich versehen werden musste. Man musste also am Tage für sein Brot arbeiten und Abends oder Sonntags die Verbandsgeschäfte erledigen. Als Entschädigung gab es monatlich 25 M[ark], da aber kein Büro bestand, musste die Arbeit in der Wohnung gemacht werden.“
L2: Die Arbeit für Gewerkschaft und Partei – er ist ab 1891 auch Redakteur der „Allgemeinen Deutschen Sattler-Zeitung“ – lastet Sassenbach nicht aus.
L1: „Sassenbach hat an sich selbst gearbeitet wie wenige.“
L2: Ludwig Heyde, Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, 1932
L3: Ich besuchte „zwar ohne Anrecht und ohne Erlaubnis, die Vorlesungen an der Universität. Ich hörte alle möglichen Sachen, vor allem aber Volkswirtschaft. Dazu verschaffte ich mir Zugang zur königlichen Bibliothek und erhielt auch das Recht Bücher mit nach Hause zu nehmen.“
L2: Der Handwerker Sassenbach kommt mit der „im ersten Entstehen begriffenen sozialistischen Studentenbewegung“ in Kontakt.
L3: „Man plante zu jener Zeit, einen sozialistischen Akademikerkongress zusammen zu berufen und da die Studenten wenig Erfahrung auf diesem Gebiet hatten und auch sehr vorsichtig sein mussten, waren sie über meine Mithilfe sehr erfreut. Ich habe daher zusammen [mit anderen Studenten] den Kongress vorbereitet. Der Kongress fand 1895 in einem kleinen Restaurant zwischen Berlin und Rummelsburg statt.“
L1: „Mit einem Hoch auf den internationalen, revolutionären Sozialismus, in das alle Anwesenden begeistert einstimmten, schloss der erste deutsche sozialistische Akademiker-Kongress.“
L2: So zu lesen in der Zeitschrift „Der Sozialistische Akademiker“ im November 1895. Sassenbach gehört der Redaktion an, er schreibt einen Gedenkartikel an die Revolution von 1848. Der „Sozialistische Akademiker“ berichtet: Der Staatsanwalt halte den Artikel für sehr gefährlich.
L1: „Er verherrliche die körperlichen Kämpfe von 1848 etc. und gebe den ‚Anreiz‘, diese gewaltsame Revolution fortzusetzen, seitens des ‚sogenannten‘ Proletariats gegen die besitzende Klasse. Es werde ziemlich offenherzig aufgefordert, die bestehende Ordnung gewaltsam zu stürzen ...“
L2: Sassenbach muss für 2 Monate ins Gefängnis.
L3: „Die Behandlung war anständig, als besondere Vergünstigung hatte ich eigene Kleidung und Selbstbeschäftigung ... Mit Selbstbeschäftigung ist die Gefängnisstrafe nur noch eine halbe Strafe, wenn man sich an die Einsamkeit gewöhnen kann. Ich hatte mir den Tag stundenweise eingeteilt und einen richtigen Wochenplan aufgestellt. Französisch, Englisch, Geschichte, Philosophie, Volkswirtschaft usw. dazwischen Freistunden für leichte Lektüre. Bücher hatte ich soviele, wie ich wünschte.“
L2: 1895 scheidet Sassenbach aus der Redaktion des „Sozialistischen Akademikers“ aus. Er gründet „Neuland. Monatszeitschrift für Politik, Wissenschaft, Litteratur und Kunst“. Die Zeitschrift existiert bis März 1898. Barbara Voigt hierzu in ihrem Aufsatz: Der Gewerkschaftsführer, Verleger und Publizist Johann Sassenbach , Berlin/DDR, 1987
L1: „Neuland unterschied sich schon äußerlich stark vom Sozialistischen Akademiker: Auf gutem Papier gedruckt, erschien schon das erste Heft mit anspruchsvoller Ausstattung, die sich mit vergleichbaren bürgerlichen Zeitschriften messen konnte. ...
Die Zeitschrift war offenbar auf den anspruchsvolleren Teil des Leserkreises berechnet, den auch Der Sozialistische Akademiker bediente.“
L2: In „Neuland“ veröffentlichen Autoren, die auch in Sassenbachs Verlag erscheinen. Seit 1891 ist Sassenbach Verleger und ab Mitte der 1890er Jahre Förderer der literarischen Moderne; der Dichter und Dramatiker des Naturalismus Arno Holz, sein Kreis und damals bekannte Arbeiterdichter wie Otto Krille finden sich im Verlagsprogramm.
L3: „Mein Verlag hat sich einen guten Ruf errungen; unter der Bezeichnung ‚Regiment Sassenbach‘ zählte einmal der Berliner Börsen-Courier die bei mir erschienenen Autoren auf. Die Wiener ‚Wage‘ schrieb: ‚Was die Sassenbachianer sind, weiß man in Wien wohl schon? Es sind die Jüngsten der Jüngsten, die Tollsten der Tollen, die ein Herr Sassenbach in Berlin verlegt.“
L2: Auch Sassenbachs erstes eigenes Buch erscheint 1893 im Sassenbach-Verlag – der Titel: „Die heilige Inquisition“ – es ist eine Abrechnung mit der katholischen Kirche.
L3: „Die dunkelsten Blätter der Weltgeschichte sind die, welche vom religiösen Fanatismus beschrieben wurden. ... Die natürlichsten Gefühle, die jedem Geschöpf innewohnen, werden durch ihn erstickt: Gattenliebe, Elternliebe, Kindesliebe verschwinden vor dem rauhen Hauche dieser entsetzlichen Geistesverirrung.“
L2: Sassenbach ist ein Büchernarr. Der bürgerliche Sozialreformer Ludwig Heyde schreibt 1923:
L1: „Seine Bibliothek umfaßt tausende wohlgeordneter Bände der belletristischen, politischen und gewerkschaftlichen Fachliteratur und gehört wohl zu den größten und übersichtlichsten Privatbüchereien der Reichshauptstadt. Auf gewerkschaftlichem Gebiet ist sie geradezu von monopolistischer Bedeutung. Hunderte junger Studenten haben den Weg zu dieser Bibliothek gefunden.“
L1: 1933 beschlagnahmen die Nazis die Bibliothek, ein Großteil der Bücher ist bis heute verschollen.
L2: Johannes Sassenbach gehört seit 1902 dem zentralen Leitungsorgan der sozialistischen Gewerkschaften an, der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands. Er prägt die gewerkschaftliche Kultur- und Bildungspolitik wie kein anderer. Auf dem Gewerkschaftskongress in Köln 1905 setzt er den Beschluss durch:
L3: „Die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands wird beauftragt, die Einrichtung periodischer Unterrichtskurse über die Theorie und Praxis der Gewerkschaftsbewegung in verschiedenen Orten Deutschlands ernstlich zu erwägen und eventuell in Ausführung zu bringen.“
L2: Und in den Leitsätzen zu „Bildungsbestrebungen und Bibliothekswesen in den Gewerkschaften“ formuliert er 1911auf dem Gewerkschaftskongress in Dresden:
L3: „Die Gewerkschaften haben die Aufgabe, die Mitglieder mit Fragen des öffentlichen Lebens bekannt zu machen und ihnen Kenntnisse zu vermitteln, die geeignet sind, sie als Menschen zu heben und als kämpfende Arbeiter in ihren Kämpfen zu unterstützen.“
L2: Zentraler Ort für Sassenbachs kulturelles Engagement wird das 1900 fertiggestellte Berliner Gewerkschaftshaus am Engelufer, heute Engeldamm. Er ist einer der Initiatoren für die Errichtung dieses Hauses, wird dessen Geschäftsführer und wohnt auch dort.
L3: „Welchen Genuß hat der kunstfreudige Arbeiter, wenn er in einem Museum von Gemälden und Skulpturen umhergeht, ohne irgendeine Anleitung zu haben. Er versäuft in der Masse der ausgestellten Gegenstände und geht unbefriedigt nach Hause. In einer kleinen aber vielseitigen Ausstellung muß er erst mit dem Wesen der Kunst bekannt gemacht werden.“
L2: Zusammen mit dem Mäzen der Berliner Gewerkschaften Dr. Leo Arons veranstaltet er zu Beginn des Jahres 1903 eine Kunstausstellung.
L3: „Die besten Werke wurden uns von Künstlern, Museen und privaten Sammlern zur Verfügung gestellt. Liebermann, Corinth, Stuck etc. alle waren vertreten; auch verschiedene Büsten waren ausgestellt. An jedem Abend fanden in der Ausstellung selbst Vorträge und Führungen von Sachverständigen statt.“
L2: allerdings:
L3: „Diese Ausstellung verursachte wegen Beschaffung der Kunstwerke zu viel Schwierigkeiten und ist nur zweimal veranstaltet worden.“
L2: Eine andere Ausstellung hingegen hat eine längere Laufzeit.
L3: „Eine Reihe von Jahren hindurch wurde eine andere Ausstellung fortgeführt, die Ausstellung von Arbeitermöbeln. Es sollte auf die Verbesserung des Geschmackes der Arbeiter hingewirkt werden. Als Ausstellungsraum wurde der große Keller des Anbaus des Gewerkschaftshauses genommen, der genug Platz bot, um kleine Zimmer zu schaffen, sodaß nicht allein Möbel ausgestellt wurden, sondern für diese der entsprechende Rahmen mit Anstrich, Tapeten, Vorhängen, Teppichen und Bilder geschaffen werden konnte. Auch diese Ausstellung hat sehr viel Anklang gefunden.“
L2: Bundespräsident Theodor Heuss dazu in einem Brief an den Kulturreferenten des DGB Otto Burmeister, März 1960:
L1: „Er hat etwas Großartiges fertig gebracht: da waren in dem Verwaltungsgebäude der Gewerkschaften ein paar Räume frei gemacht für eine dauernde Möbelausstellung, Wohn- und Schlafzimmer usf., mit Steinzeichnungen und Holzschnitten geschmückt. Was sollte das? Anweisung zum Leben in einer proletarischen Umwelt? Nein, aber eine Anweisung zum Freiwerden von dem ‚bürgerlichen Stilkitsch‘, der in den Abzahlungsgeschäften jungen Eheleuten angeboten wurde, mit der Verlockung, daß solche Talmi-Umwelt sie zum Vornehm-Getue verführe. ... der pädagogische Sinn war ziemlich einfach: daß das Schlichte auch schön sei, wenn es die rechten Maße besitzt.“
L3: „Am Freitag, den 5. September, und fernerhin an jedem ersten Freitag im Monat bin ich von 8 1/2 Uhr an zu Hause. Mit freundlichem Gruss Joh. Sassenbach.“
L2: Seit 1900 veranstaltet Sassenbach in seiner Wohnung im Gewerkschaftshaus die „Freitag-Abende“.
L3: „Es gab nur Flaschenbier und Zigarren, also eine sehr bescheidene Bewirtung und trotzdem wurden diese Abende zu einer bekannten und beliebten Einrichtung in Berlin. Der Kreis der Teilnehmer, der zunächst klein war, wurde ganz langsam erweitert, als ich von Berlin nach Amsterdam verzog [1923], standen rund hundert Personen auf der ‚Hofliste‘, von denen an jedem Abend 20 bis 30 anwesend waren. ... Das Interessanteste an diesem Abend war die Mischung, die an keiner anderen Berliner Stelle anzutreffen war. Politische Richtungen von den Kommunisten bis zu den Deutsch-Nationalen – Gelehrte und Künstler – Fabrikdirektoren und Handarbeiter – Ausländer, darunter Diplomaten und Pressevertreter – Mitglieder des Parteivorstandes und der Generalkommission der Gewerkschaften – Parlamentarier und Stadtverordnete usw.“
L1: „Sassenbach sah sich selbst als Vermittler.“
L2: Vermittler zwischen den politischen Richtungen und den gesellschaftlichen Schichten und Klassen – Vermittler auch auf internationalem Terrain.
Der Erste Weltkrieg hatte die Internationale der Gewerkschaften entzweit. Sassenbach trug wie die große Mehrheit der deutschen Gewerkschaftsführer die Kriegspolitik des Kaiserreiches mit. 1919 leitete er die Wiederannäherung und Aussöhnung ein.
Amsterdam, im Juli 1919. Vor Beginn des Internationalen Gewerkschaftskongresses fordern die belgischen Gewerkschaften eine Stellungnahme der deutschen Gewerkschaften. Daraufhin erklärt Sassenbach:
L3: „Die deutschen Gewerkschaften haben zu jeder Zeit anerkannt, daß Belgien schweres Unrecht zugefügt wurde; sie haben auch stets die Grausamkeiten verurteilt, die während der Besetzung Belgiens begangen wurden. ...
Die deutsche organisierte Arbeiterschaft war der festen Überzeugung, daß es sich für Deutschland um einen Verteidigungskrieg handelte. Die deutsche Arbeiterschaft ist stets ein Gegner des Krieges und der Rüstungen gewesen und hat niemals imperialistische und annexionistische Bestrebungen unterstützt. Hätten die deutschen Gewerkschaften die Auffassung gehabt, daß Deutschland der angreifende Teil sei, so wäre ihre Stellung und die ihrer Vertreter eine andere gewesen. ... Alles, was während der Kriegszeit seitens der deutschen Gewerkschaften getan wurde, geschah in der Auffassung, dem Lebensinteresse des deutschen Volkes zu dienen, ohne damit ein Unrecht gegen die Arbeiterschaft der anderen Länder zu begehen und ohne damit gegen unsere internationalen Verpflichtungen zu verstoßen.“
L2: Was die internationalen Gemüter beruhigt, erregt die der deutschen Delegation. Gegenerklärung der
deutschen Delegation in der holländischen
Presse:
L1: „Die Erklärung von Sassenbach hat in Deutschland starke Beunruhigung hervorgerufen. Dies veranlasst uns, dem Kongress bekanntzugeben, dass wir erst nach Abgabe der Erklärung Sassenbachs in Amsterdam eingetroffen sind und dass wir diesen Wortlaut nicht billigen können.“
L2: Das verschlechterte die Stimmung, aber Sassenbachs Erklärung wird vom Kongress akzeptiert und nicht zurückgenommen.
L3: „Man kann sich
vorstellen, dass die Stimmung der deutschen Delegation eine sehr schlechte war. Wenn ich von einem Vertreter der ‚Entente‘ wegen irgendeiner Angelegenheit angeredet wurde, und mit ihm sprach,
ruhten die Blicke meiner deutschen Kollegen auf mir, als ob ich im Begriffe sei, Landesverrat zu begehen.“
L2: Die Wiederannäherung der Gewerkschaften der im Weltkrieg verfeindeten Staaten ist eine der wichtigsten Leistungen Sassenbachs. Sein künftiges Aktionsfeld wird Europa und die Internationale sein.
Seit März 1920 ist er „Sozial-Attaché“ an der deutschen Botschaft in Rom – eine intensive Tätigkeit von kurzer Dauer.
L1: „Der einzige Sozialattaché, den das Deutsche Reich einer seiner Missionen im Auslande beigegeben hatte, Stadtrat Johann Sassenbach, ist aus Rom zurückgekehrt, um seine Tätigkeit im Vorstande des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes wieder aufzunehmen. Erfreulicherweise bleibt also diese ausgezeichnete und durch Jahrzehnte bewährte Kraft, in der sich ein Stück bester deutscher und internationaler Gewerkschaftstradition verkörpert, den Gewerkschaften erhalten. Aber der Verlust, den unsere Botschaft in Rom ... erlitten hat, ist außerordentlich groß.“
L2: Die Zeitschrift „Soziale Praxis“, im Dezember 1920
L3: „Am 9. Dezember 1922 wurde ich in einer Sitzung des Vorstandes des Internationalen Gewerkschaftsbundes einstimmig zum Sekretär dieser Internationale gewählt.“
„Mein Umzug nach Amsterdam fand am 31. Januar 1923 statt.“
L2: Sassenbachs Funktion bei der Internationale, seit 1927 als Generalsekretär, ist der Höhepunkt seiner Gewerkschafterkarriere, in seinen Erinnerungen zeigt sich allerdings Distanz.
L3: „Meine Möbel, die Bibliothek und den Rest der Verlagsartikel ließ ich in der Verwahrung des Berliner Gewerkschaftshauses, da ich nicht die Absicht hatte, mir in Amsterdam eine eigene Wohnung zuzulegen.
Über die Tätigkeit des Internationalen Gewerkschaftsbundes besteht eine ganze Literatur ... Ich habe nicht die Absicht, hier an anderer Stelle Gesagtes zu wiederholen, noch weniger beabsichtige ich Mitteilungen über vertrauliche Angelegenheiten zu machen ...
Ich will auch nicht über die Holländer reden, obgleich ich während meines Aufenthaltes in Holland vielen Anlass zur Misstimmung hatte. Es scheint selten vorzukommen, dass Ausländer, die in Holland längere Zeit leben müssen, sich dort allzu wohl fühlen ...“
L2: Holland, Amsterdam also kein Lieblingsort – es gibt andere.
Sarajewo zum Beispiel – ein Bericht von einer Reise nach Bosnien, Herzegowina und Montenegro, die er zusammen mit Carl Legien, dem Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands im Jahr 1911 unternimmt:
L3: „Sarajewo ist seit diesem ersten Besuche einer meiner
Lieblingsorte geworden, wie Avignon in Frankreich, Oxford in England, Perugia in Italien. Mit seinen vielen Moscheen, seinen Minaretten, von denen noch zum Gebet gerufen wurde, mit seinen kleinen
Türkenfriedhöfen unmittelbar neben belebten Plätzen, seinem Bazar, der den Bazar von Konstantinopel übertreffen soll, und den verschiedenartigen Typen seiner Bewohner war damals Sarajewo eine
Offenbarung.“
L2: Sassenbach ist der Polyglotte unter den deutschen Gewerkschaftern seiner Generation. Seine Reiseberichte hinterlassen einen Fundus nicht nur politischer, sondern auch ganz alltäglicher Eindrücke. So schreibt er 1913 im Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands in einem Artikel über „Eindrücke von der italienischen Arbeiterbewegung“:
L3: „Die Arbeiterbewegung Italiens wird stark von der geschichtlichen Vergangenheit des Landes beeinflußt. Italien ist ein sehr stark demokratisches Land und das demokratische Gefühl findet man nicht nur bei den Volksmassen, sondern auch im Bürgertum und den höheren Klassen. Ostpreußische Zustände sind in Italien unmöglich; weder der ärmste Arbeiter wird einen Hochstehenden mit der blöden Bewunderung betrachten, die bei uns möglich ist, noch der Reiche oder Hochstehende auf die breite Masse herabschauen, wie es bei uns viele Leute zu tun belieben. Dadurch ist auch die Trennung zwischen den einzelnen Klassen nicht so scharf wie bei uns.“
L2: Und weiter:
L3: „Auch die Reinlichkeit hat zugenommen. Die Abtritte sind jetzt meistens in gebrauchsfähigem Zustande, was früher ausgeschlossen war. Auch das früher allgemein übliche ekelhafte Ausspucken ist infolge der überall angebrachten Mahnungen zurückgegangen.“
L2: 1930 verabschiedet der Internationale Gewerkschaftskongress in Stockholm Johannes Sassenbach mit stehenden Ovationen. Sassenbach will nicht mehr für eine weitere Amtszeit kandidieren. Er zieht nach Frankfurt a.M..
L3: „Seit meinem Rücktritt als Generalsekretär des IGB habe ich still als Privatmann gelebt und grundsätzlich darauf verzichtet, im öffentlichen Leben eine Rolle zu spielen und der jüngeren Generation im Wege zu stehen. Die Entwicklung der Verhältnisse in Deutschland hat diesen Entschluss überdies leicht gemacht.“.
L2: Die Stille des Privatmannes wird gestört.
L1: Am 7. August 1933 wird vermerkt, dass er „verbotene Zeitungen“ beziehe
L2: 1934 erfolgen zwei Verhaftungen:
L1: die erste Anfang Mai 1934, weil er durch „einen Vertrauensmann in Paris der Vornahme staatsfeindlicher Handlungen beschuldigt“, worden war
L2: die zweite am 15. Mai 1934 im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens „wegen Vorbereitung zum Hochverrat“.
L1: Am 31. Mai 1934 wird das Verfahren „wegen nicht hinreichender Beweise“ eingestellt.
L2: Am 7. November 1940 erleidet Johannes Sassenbach einen Schlaganfall.
L1: Am 19. November 1940 verstirbt er an den Folgen. Die Beerdigung erfolgt in aller Stille. Es ist keine Zeit, in der man sozialdemokratischen Gewerkschaftern offen ein ehrendes Gedenken bewahren kann.
L2: In einer Schweizer Gewerkschaftszeitung erscheint 1941 der einzige Nachruf, darin der Satz:
L1: „Johann Sassenbach war ein Deutscher, der die Welt kannte, der sie liebte und von ihr geliebt wurde.“
... vor 90 Jahren
Johannes Sassenbach, seit 1923 Sekretär, ab 1927 bis 1931 Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes, veröffentlicht 1926 eine Geschichte der Internationalen Gewerkschaftsbewegung.
... vor 110 Jahren
1906 erscheint die erste Lieferung von Sassenbachs "Verzeichnis der in deutscher Sprache vorhandenen gewerkschaftlichen Literatur".
Beide Digitalisate hat unser Mitglied Hubert Woltering zur Verfügung gestellt.
Aus dem Nachlass Johannes Sassenbach:
In Sassenbachs Nachlass sind zahlreiche Postkarten überliefert, die er von deutschen und
ausländischen Kolleginnen und Kollegen erhielt, darunter auch die folgenden aus den Vereinigten Staaten und aus
Dänemark.
Postkarte aus Milwaukee/USA von Carl Legien, Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und Albert Baumeister, der Legien als Dolmetscher auf dessen Amerikareise 1912 begleitete, April 1912.
"Herzl[iche] Grüße aus der Bierstadt, nach der besten Vers[ammlung], die wir bisher sahen. Albert [Baumeister] C[arl]. Legien"
Cal Legien, Emma Ihrer (1890-1892 Mitglied der Generalkommission, Herausgeberin der "Gleichheit") und Gertrud Hanna (Arbeiterinnensekretariat/Generalkommission, dann Bundesvorstand ADGB) vom Internationalen Sozialistenkongress in Kopenhagen, 28.08.-03.09.1910:
"Kophg. 4.9.10
L[ieber]. H[ans]. Das ist der Anfang des Demonstrationszuges. Jensen vorn rechst nebst Branting ..."